Standsicherheit: Regelmäßige Bauwerksprüfungen sind Verkehrssicherungspflicht
Vom 14.02.2025Am 2. Januar 2006 stürzte das Dach der Eissporthalle in Bad Reichenhall ein, wobei 15 Menschen ums Leben kamen und 34 weitere verletzt wurden. Untersuchungen ergaben, dass der Einsturz auf eine Kombination mehrerer Faktoren zurückzuführen war:
- Konstruktionsmängel: Die Dachkonstruktion wich von der zugelassenen Bauweise ab. Die verwendeten Kastenträger überschritten die maximal zulässige Höhe von 1,20 Metern erheblich, ohne dass eine erforderliche Sondergenehmigung eingeholt wurde. Zudem wurden statische Berechnungen nicht von einem Prüfingenieur geprüft, wodurch das Vier-Augen-Prinzip nicht angewendet wurde.
- Materialfehler: Bei den Holzleimbindern kam ein feuchtigkeitsempfindlicher Harnstoff-Formaldehyd-Klebstoff zum Einsatz, der für die feuchte Umgebung einer Eissporthalle ungeeignet war. Dies führte über die Jahre zu einer Schwächung der Klebeverbindungen.
- Wartungsmängel: Trotz wiederholter Wassereinbrüche in das Halleninnere wurden diese nicht dauerhaft behoben. Eine fachgerechte Überprüfung der Dachkonstruktion fand während der gesamten Nutzungsdauer nicht statt.
Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung wurden Ermittlungen gegen mehrere Personen eingeleitet, darunter ehemalige Mitarbeiter der Stadt Bad Reichenhall sowie beteiligte Architekten und Ingenieure. Ein Bauingenieur wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt; andere Angeklagte wurden freigesprochen. Diese Freisprüche wurden jedoch später vom Bundesgerichtshof aufgehoben und zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen.
Wie sieht fast 20 Jahre nach dem Unglück die rechtliche Lage aus – vor allem hinsichtlich der Prüfpflichten?
Wenn man die Gesetzespyramide von oben nach unten betrachtet, wäre da zunächst die Verkehrssicherungspflicht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) aufzuführen. Diese schreibt vor, dass jemand, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält (z. B. ein Gebäude, eine Straße oder eine Veranstaltung), dafür sorgen muss, dass niemand dadurch zu Schaden kommt. Das bedeutet, dass er angemessene Vorkehrungen treffen muss, um Gefahren zu erkennen und zu beseitigen. Falls er das nicht tut und jemand verletzt wird oder Sachschaden entsteht, kann er für die Folgen haftbar gemacht werden (§§ 823 ff. BGB).
Für Gebäude bzw. Bauwerke gelten ferner die Bauordnungen der Bundesländer. So besagt Art. 3 der Bayerischen Bauordnung:
Bei der Anordnung, Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung, Instandhaltung und Beseitigung von Anlagen sind die Belange der Baukultur, insbesondere die anerkannten Regeln der Baukunst, so zu berücksichtigen, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben und Gesundheit, und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden. Anlagen müssen bei ordnungsgemäßer Instandhaltung die Anforderungen des Satzes 1 während einer dem Zweck entsprechenden angemessenen Zeitdauer erfüllen und ohne Missstände benutzbar sein.
Die Bauordnungen und ihre Technischen Baubestimmungen legen zahlreiche Beschaffenheitsanforderungen fest, die sicherstellen sollen, dass Gefährdungen minimiert werden (Brandschutz, Statik etc.). Sie schreiben jedoch keine regelmäßigen Prüfungen für bestehende Gebäude vor!
Als Erkenntnis nach dem Unglück in Bad Reichenhall wurde die VDI-Richtlinie 6200 „Standsicherheit von Bauwerken – Regelmäßige Überprüfungen“ im Jahr 2010 veröffentlicht. Die Richtlinie teilt Bauwerke nach Typen bzw. Schadensfolgeklassen ein, z. B.:
- CC 2 für Bürogebäude, Industrie- und Gewerbebauten und
- CC 3 für Kongresshallen oder Stadien.
Für die regelmäßigen Überprüfungen unterscheidet die VDI 6200 folgende Stufen und Zeitintervalle für CC 2-Bauwerke:
- Begehung durch den Eigentümer/Verfügungsberechtigten alle 2 bis 3 Jahre
- Inspektion durch eine fachkundige Person alle 4 bis 5 Jahre
- Eingehende Überprüfung durch eine besonders fachkundige Person alle 12 bis 15 Jahre.
Die VDI 6200 als Richtlinie des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) ist keine gesetzlich verbindliche Vorschrift. Das bedeutet, dass sie nicht automatisch rechtlich verpflichtend ist. Allerdings kann sie indirekt rechtliche Bedeutung erlangen, wenn sie beispielsweise:
- In Verträge aufgenommen wird – Wenn Eigentümer oder Betreiber von Bauwerken vertraglich vereinbaren, dass die VDI 6200 als Standard für die regelmäßige Überprüfung der Standsicherheit gilt, wird sie für die Beteiligten bindend.
- Als anerkannte Regel der Technik betrachtet wird – Gerichte oder Sachverständige können die Richtlinie als Maßstab heranziehen, um zu beurteilen, ob Betreiber ihrer Verkehrssicherungspflicht nachgekommen sind (§ 823 BGB). Falls nach einem Unglück eine mangelhafte Überprüfung nachgewiesen wird, kann dies haftungsrechtliche Konsequenzen haben.
- Von Behörden empfohlen oder gefordert wird – In manchen Fällen verlangen Bauaufsichtsbehörden die Einhaltung solcher technischer Standards, insbesondere wenn keine spezifischen gesetzlichen Regelungen bestehen.
Fazit: Unternehmer tragen Verantwortung – unabhängig von konkreten gesetzlichen Vorgaben
Das Unglück von Bad Reichenhall hat gezeigt, dass Versäumnisse in Konstruktion, Materialwahl und Wartung schwerwiegende Konsequenzen haben können – für die Betroffenen ebenso wie für die Verantwortlichen. Auch heute gibt es in Deutschland keine allgemeine gesetzliche Pflicht zur regelmäßigen Prüfung von Bauwerken. Dennoch ergibt sich aus der Verkehrssicherungspflicht nach dem BGB eine klare Verantwortung für Eigentümer und Betreiber: Sie müssen sicherstellen, dass von ihren Gebäuden keine Gefahr für Menschen ausgeht.
Die VDI 6200 bietet hierfür eine wertvolle Orientierung. Zwar ist sie nicht gesetzlich bindend, doch sie kann als anerkannte Regel der Technik in Haftungsfragen herangezogen werden. Wer sich an die darin empfohlenen Prüfintervalle hält, stärkt seine rechtliche Position und reduziert Risiken. Letztlich gilt: Ein Unternehmen, das den Schutz von Leben und Gesundheit zur obersten Priorität macht und präventiv handelt, bewegt sich nicht nur nachhaltig, sondern auch rechtlich auf sicherem Boden.
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